«Die fundamentalen Markttrends sind intakt»

17.03.2023

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Ein Gespräch mit Ingo Steinkrüger, dem CEO von Interroll, über das Geschäftsjahr 2022, die Bedeutung von Resilienz und die wichtigsten Trends in der internationalen Materialflussbranche.

Herr Steinkrüger, erst die weltweite Corona-Pandemie mit gestörten Lieferketten, dann der Krieg in der Ukraine mit anschliessender Energie-Krise und Inflation. Wie viele Sturmböen zogen im vergangenen Jahr über die Materialfluss-Landschaft?

Ingo Steinkrüger: Um in Ihrem meteorologischen Bild zu bleiben: Das Umfeld war im Jahr 2022 ausgesprochen wechselhaft. Denn wie die Wirtschaft insgesamt war auch unsere Branche einer Vielzahl von grossen und teilweise abrupten Veränderungen ausgesetzt. Zunächst hatte die Pandemie vor allem durch das boomende E-Commerce-Geschäft für eine zusätzliche, starke Nachfrage nach Materialflusslösungen gesorgt – bei gleichzeitig äusserst angespannten Lieferketten, die es manchmal unmöglich machten, alle Kundenwünsche schnell und wunschgemäss erfüllen zu können. Dann kamen der plötzliche Kriegs- und anschliessende Energiepreisschock sowie erneute Lockdowns in China hinzu, die zu Verunsicherungen im Markt führten, Lieferketten erneut belasteten und die anfänglichen Planungen vieler Unternehmen  durcheinander wirbelten.

Und wie ist Interroll rückblickend durch dieses volatile Jahr gekommen?

Wir haben diese ungewöhnlichen Herausforderungen im Laufe des vergangenen Jahres mit der professionellen Kompetenz, der hohen Flexibilität und dem grossem Engagement unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meistern können. Ihnen gilt mein ausdrücklicher Dank. Der erzielte Rekordumsatz bei gleichzeitig gestiegener Profitabilität ist ein Erfolg, auf den wir gemeinsam stolz sein können. Es freut mich sehr, dass wir unsere Kunden auch unter diesen sehr anspruchsvollen Bedingungen vertrauensvoll unterstützen konnten.

Und wie stellt sich die Lage derzeit dar?

Die ökonomische Grosswetterlage hat sich in letzter Zeit erst einmal etwas stabilisiert. Deshalb ist es wichtig, dass es uns selbst in turbulenten Zeiten mit belasteten Lieferketten gelungen ist, den  hohen Auftragsbestand zügig abzubauen. Der Nachfragerückgang im Verhältnis zu den Rekordwerten des Vorjahrs ist aus unserer Sicht vor allem der Verunsicherung des Marktes im Jahr 2022 geschuldet. Doch die Märkte und unsere gesamte Branche laufen derzeit wieder in gefestigteren Bahnen - und wir sind sehr gut aufgestellt, um die Chancen dieser Normalisierung zu nutzen. Unsere Strategie ist seit jeher langfristig ausgelegt, deshalb verfügen wir über ein Portfolio und eine Produktionskapazität, die ihresgleichen im Markt suchen. Heute können wir unsere Kunden in vielen Märkten sogar noch besser und schneller als in der Vor-Pandemie-Zeit bedienen. Schliesslich bedeutet eine möglichst schnelle Lieferfähigkeit für unsere Kunden angesichts immer kürzerer Projektlaufzeiten einen entscheidenden Mehrwert. Neue Geschäftschancen   können sie mit uns nun noch besser ausnutzen – auch weil wir über einen kundennahen Vor-Ort-Vertrieb verfügen, der selbst komplexere Projekte mit seiner Lösungs- und Branchenkompetenz bedarfsgerecht zum Erfolg führen kann.

Für uns ist es wichtig, eine lang­fristige Perspektive einzu­nehmen. Hierbei sehen wir ein­deutig einen wachsenden Bedarf nach verläss­lichen und nach­haltigen Lösungen, die einfach und schnell zu imple­men­tieren sind.»

Ingo Steinkrüger

Was erwarten Sie für die Zukunft?

Die Konjunkturaussichten für die Weltwirtschaft und die einzelnen Weltregionen sind derzeit sicherlich noch unsicher. Deshalb wäre ein kurzfristiger Ausblick aktuell wenig aussagekräftig.. Wir fokussieren uns zur Zeit darauf, resilient und anpassungsfähig zu bleiben, um für die kurzfristig denkbaren Szenarien bestmöglich gerüstet zu sein. Dabei ist es für uns aber wichtig, die eine langfristige Perspektive einzunehmen. Und hier sehen wir eindeutig einen wachsenden Bedarf nach verlässlichen und nachhaltigen Lösungen, die einfach und schnell zu implementieren sind. Und mit unserem Produktportfolio und der damit verbundenen Plattformstrategie sind wir genau dafür richtig aufgestellt.

Welche Geschäftsstrategie verfolgen Sie hierbei?

Wir haben gezeigt, dass wir langfristig erfolgreich in der Materialflussbranche tätig sind, haben also bereits die schwierigen Zeiten der Internetblase, der Finanz- und Eurokrise erlebt – und daraus gelernt. Deshalb setzen wir weiter auf unser Geschäftsmodell als neutraler Partner für Systemintegratoren und Anlagenbauer, auf schlanke Kostenstrukturen, auf die Unabhängigkeit von externen Kapitalgebern und auf «atmende» Produktionsstätten, die sich weltweit nahtlos und kosteneffizient an die jeweilige Nachfragesituation anpassen können. Zudem kultivieren wir aus Überzeugung eine mittelständisch geprägte Form der Zusammenarbeit, die sich durch flache Hierarchien und Eigenverantwortung auszeichnet. Entsprechend hoch ist unsere Agilität und Flexibilität. Das haben wir etwa mit der schnellen Einrichtung einer Task Force bewiesen, die sich im letzten Jahr erfolgreich der Lieferkettenthematik angenommen hat. Dank dieser Arbeit und der gesammelten Erfahrung hat unsere Lieferkette heute durch eine weitere Regionalisierung und umfassendere Redundanz deutlich an Robustheit zugelegt.

Haben sich die Markttrends in Ihrer Branche durch die schnelle Abfolge der externen Krisenfaktoren wesentlich verändert?

Nein. Die persönlichen Gespräche mit unseren Kunden und entsprechende Befragungen zeigen, dass die Markttrends, auf die wir langfristig setzen, intakt sind. So ist zum Beispiel nicht nur aus Nachhaltigkeitsgründen das Thema Energieeffizienz, bei dem wir im Materialflussmarkt schon seit Jahren technologisch führend sind, noch wichtiger geworden – vor allem in Europa, wo die Energiekosten drastisch gestiegen sind. Denken Sie nur an die RollerDrive, also unsere Niederspannungsantriebe, die in Kombination mit der Modular Conveyor Platform (MCP) seit der Markteinführung praktisch zum Industriestandard für einen kontrollierten Warenfluss geworden sind. Dieses dezentrale Antriebskonzept ermöglicht Einsparungen von rund 50 Prozent gegenüber konventionellen Lösungen. Oder an den sehr hohen Wirkungsgrad von rund 90 Prozent, den unsere kompakten Trommelmotoren aufweisen. Oder das besonders langlebige und energiesparende Antriebskonzept unserer Sortierlösungen. Dass heute und auch in Zukunft Fragen nach dem Energieverbrauch und der Nachhaltigkeit von Materialflusslösungen ganz oben auf der Wunschliste von Systemintegratoren und Anwendern stehen, hilft uns also. Dies gilt sowohl für Investitionen in Neuanlagen als auch bei Modernisierungsprojekten.

Nachhaltigkeit ist aber nicht nur eine Frage, die den Kunden und Anwender betrifft …

Genau. Deshalb haben wir für 2022, nachdem wir in den Vorjahren über unsere Nachhaltigkeitsmassnahmen im Geschäftsbericht berichtet hatten, erstmals einen separaten Nachhaltigkeitsbericht nach internationalen GRI-Standards veröffentlicht, der vom Verwaltungsrat und der Konzernleitung vorangetrieben wurde und dem wir uns verpflichtet haben. Wir haben uns damit verbindliche und konkrete Ziele gesetzt, die wir bis 2030 erreichen wollen. Hierfür haben wir für unterschiedliche Handlungsfelder, in denen wir mit entsprechenden Massnahmen die stärkste Wirkung entfalten können, Policies, Guidelines und Ziele definiert und diese jeweils in die strategische sowie inhaltliche Verantwortung von einzelnen Mitgliedern der Konzernleitung übergeben, die gemeinsam mit dem lokalen Management an der Erreichung der entsprechenden Zielvorgaben arbeiten. Dieses Vorgehen sorgt nicht nur für einen wirkungsvollen Entscheidungsprozess, sondern auch für eine leichte Identifizierung von Best Practices, die die Wirkung der Massnahmen verstärken. Wir konzentrieren uns auf Massnahmen, deren Wirkung wir tatsächlich belegen können.

Zurück zu den Markttrends: Wie sieht es bei der Distribution aus?

Marktzahlen und Prognosen zeigen, dass nicht nur die Vielfalt der versandten Waren, sondern auch das Volumen der Sendungen weltweit weiter stark steigen. So soll die Menge der jährlichen Paketsendungen bis 2027 auf rund 256 Milliarden anwachsen, bei einem durchschnittlichen Jahreswachstum ab 2022 von 8,5 Prozent. Dieser anschwellende Güterstrom lässt sich nur noch mit automatisierten und möglichst flexiblen Materialflusssystemen bewältigen – selbst in den aufstrebenden Schwellenländern, in denen bisher noch kein Fachkräftemangel herrscht und eher manuelle Arbeitsabläufe zum Einsatz kommen. Gleichzeitig findet in den Distributionsnetzen der entwickelten Märkte verstärkt ein Umbau in Richtung Dezentralisierung statt, bei dem eine Vielzahl von neuen, kundennäheren Verteilzentren entstehen – was den Kurier-, Express- und Paketdienstleistern (KEP) eine höhere Kapazität, schnellere Lieferungen und mehr Nachhaltigkeit im logistischen Prozess ermöglicht.

Wie sind Sie in diesem wichtigen Marktsegment aufgestellt?

Im KEP-Markt haben wir eine starke Marktstellung bei Sortierlösungen, die wir seit Jahren kontinuierlich ausgebaut haben. Mittlerweile sind weltweit bereits über 500 Sorter bei Branchenführern wie zum Beispiel Amazon, DHL, FedEx, UPS und bei den meisten Postunternehmen im Einsatz. Wir haben unser plattformbasiertes Portfolio bei Sortierlösungen in den letzten Jahren konsequent durch Innovationen erweitert. In Kürze werden wir zum Beispiel unsere neue High Performance Conveyor Platform HPP vorstellen, die die besonderen Bandförderer-Anforderungen des KEP-Marktes an Robustheit und Durchsatz erfüllt. Damit werden nun erstmals auch die Vorteile eines flexiblen Baukastens aus freikombinierbaren Modulen mit einem entsprechenden Serviceangebot in diesem Bereich verfügbar – für automatisierte Förder- und Sortieranwendungen in grossen und kleinen Paketzentren, für Neuanlagen, aber auch fürs Retrofit.

Sie bleiben also in unsichereren Zeiten auf Innovationskurs?

Absolut. Um unsere Position auszubauen und unsere Verantwortung für unsere Kunden wahrzunehmen, gibt es dazu auch keine Alternative. Im Innovationsbereich nutzen wir seit Jahren die Vorteile unserer Plattformstrategie. Wie beim bekannten Lego-System entstehen so für Kunden auf der ganzen Welt anwender- und branchenspezifische Lösungen, die auf bereits bewährten Qualitätsbestandteilen aufbauen. Diese Strategie hat zudem nicht nur den Vorteil, dass wir die Komplexität bei unserer Produktion deutlich senken, sondern auch, dass wir unsere Produktentwicklung und -erweiterung schrittweise und gezielt vorantreiben können, indem wir vorhandene Bestandteile adaptieren, neu kombinieren oder einzelne Elemente gezielt hinzufügen. Das Prinzip verfolgen wir übrigens nicht nur im Hardware-Bereich, sondern auch mit unserem globalen Center of Excellence bei dem Thema Software und Elektronik. So gelingt es uns, die Wertschöpfung unseres Produktportfolios sowohl bei der Hardware als auch bei der Maschinenkommunikation kontinuierlich zu vertiefen und zu verbreitern.

Gilt dieser Weg der Innovation auch für die tägliche Zusammenarbeit mit den Kunden?

Ja, er betrifft alle Prozesse und orientiert sich wie unsere gesamte Innovationsstrategie am tatsächlichen Kundenmehrwert, also an den Vorteilen, die Qualität, Schnelligkeit und erlebbare Einfachheit bieten. So erweitern wir zum Beispiel ständig den Funktionsumfang des Interroll-Layouters, mit dem unsere Kunden ihren Planungsaufwand drastisch reduzieren und sehr einfach 3D-Simulationen geplanter Anlagen erstellen können. Oder unseren Webshop, in dem Kunden ihre Bestellungen schnell und bequem online erledigen können und der sehr gut angenommen wird.


Außerdem beziehen wir unsere Kunden auch aktiv in Innovationsprojekte mit ein. So sind wir im Rahmen unseres Rolling On Interroll-Programs mit unseren Kunden permanent im Austausch. Gleichzeitig entwickeln wir neue Formen der Kooperation, bei denen die Stärken der Beteiligten zum Nutzen der Anwender gebündelt werden. Ein Beispiel sind wegweisende Partnerschaften wie mit dem Systemintegrator viastore, die den Fokus auf die jeweiligen Kernkompetenzen der Beteiligten legen und zu echten Win-Win-Konstellationen führen, die unsere Branche insgesamt voranbringen.

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